Peter Krauth und Thomas Walter sollen einen linksterroristischen Anschlag auf ein Abschiebegefängnis geplant haben. Das war 1995. Seitdem sind sie auf der Flucht. Was braucht es, um zu vergeben? Ein Besuch im Exil in Venezuela.
Von Christoph Gurk (Text und Fotos)
Geheimnisse gibt es viele im Leben von Thomas Walter und Peter Krauth. Dinge, die sie nicht verraten können oder wollen, um andere zu schützen, und vor allem auch sich selbst. Vieles bleibt so ungesagt, manches unklar, eines aber ist sicher: Die beiden haben sich gut versteckt.
Will man sie besuchen, muss man zuerst an den Nordzipfel von Südamerika, nach Caracas, die Hauptstadt von Venezuela. Von dort aus geht es weiter ins Landesinnere, erst mit einem klapprigen Flugzeug, dann mit einem verbeulten Taxi, über kaputte Straßen, vorbei an Weiden und Feldern, durch Halbwüsten und Wälder, immer weiter hinauf in die Berge, stundenlang.
Irgendwann hinter der Stadt Mérida hört der Asphalt dann auf. Ein Bach, eine Brücke, enge Kurven. Und dort, fast am Ende der Straße, warten die beiden schon.
Es ist früher Vormittag. Peter Krauth steht in seinem Gemüsebeet, Gartenschlauch in der Hand. 64 Jahre ist er alt, Gummistiefel, Baskenmütze, Hosenträger. Seit er aufgehört hat zu rauchen, drei Schachteln am Tag, wölbt sich unter seinem T-Shirt ein kleiner Bauch. Richtig fit ist er heute auch nicht. „Scheiß Erkältung“, sagt Krauth und hält einen Salatkopf unters Wasser. „Wirst halt alt“, ruft Thomas Walter vom Rucola herüber. Sehr viel jünger ist er allerdings auch nicht, 62, um genau zu sein. Im Bart: graue Haare. Und die Prostata macht Probleme.
Vor ein paar Jahren hat der Arzt ihm deswegen geraten, nicht mehr Rad zu fahren. Will er Krauth auf seinem Hof besuchen, nimmt Walter jetzt immer den Bus, von der anderen Seite des Tals, wo er sich mit Geld aus dem Verkauf eines Grundstücks in Deutschland etwas Land gekauft und dort Kaffee gepflanzt hat. Zwei Stunden dauert die Fahrt.
Und wo er schon mal hier ist, hilft Walter seinem Freund bei der Ernte. In solchen Momenten kommen sie noch immer durcheinander: Walter nennt Krauth dann „Cuti“. Und dieser sagt „Niko“ zu ihm. Es sind die falschen Identitäten, mit denen sie sich auf den vielen Jahren ihrer Flucht bei anderen vorgestellt haben, mit denen sie sich auch untereinander anredeten. Niemand durfte ja wissen, wer sie wirklich sind.
Alles lange her. Und was sind schon Namen? Krauth zuckt die Schultern: „Wir hatten schon so viele in unserem Leben.“
Gegenüber, in einem alten Schuppen, wachsen in Hochbeeten aus Regenrinnen knallrote Erdbeeren. „Erdbeerkönig“, nennt Walter seinen Freund, wenn er ihn ärgern will. „Kaffeebaron“, antwortet der dann.
Die deutschen Behörden nennen sie: Terroristen.
Vor rund drei Jahrzehnten sollen Walter und Krauth Teil einer linksterroristischen Vereinigung gewesen sein: „Das K.O.M.I.T.E.E.“ Wofür die Abkürzung steht, dazu hat sich die Gruppierung nie geäußert. Das Bundeskriminalamt geht von mindestens drei Mitgliedern aus: Walter, Krauth und ein weiterer Komplize, Bernd Heidbreder.
Zum ersten Mal in Erscheinung trat „Das K.O.M.I.T.E.E.“ im Herbst 1994: Ein Bundeswehrgebäude etwas außerhalb von Berlin ging in Flammen auf. Am Tatort fanden die Ermittler ein Bekennerschreiben, von den Tätern fehlte jede Spur.
Walter, Krauth und Heidbreder waren damals Anfang dreißig und in der linken Szene in Berlin aktiv. In den Fokus der Ermittler gerieten sie ein halbes Jahr später: In der Nacht vom 10. auf den 11. April 1995 wollte „Das K.O.M.I.T.T.E.E“ ein sich noch im Bau befindendes Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau in die Luft jagen. Doch der Plan misslang. Eine Funkstreife stieß durch Zufall auf einen als gestohlen gemeldeten Lieferwagen. Im Laderaum: die selbstgebastelte Bombe. Und in der Fahrerkabine ein Stapel Warnzettel: „Achtung Lebensgefahr. Sprengung des Knastgebäudes! Das K.O.M.I.T.E.E.“
Neben dem Tatfahrzeug stand damals ein weiteres Auto, ein VW-Passat, auch seine Motorhaube war noch warm. Die Ermittler fanden Fingerabdrücke von Peter Krauth und Bernd Heidbreder, dazu ihre Ausweispapiere und die von Thomas Walter.
Eine Fahndung wurde eingeleitet. Ohne Erfolg: Noch in der Nacht des missglückten Anschlags tauchten Walter, Krauth und Heidbreder unter. Warum? Dazu schweigen sie. Bis heute haben sie eine Tatbeteiligung nie zugegeben. Man kann aber davon ausgesehen, dass die drei, wären sie unschuldig, sich irgendwann gestellt hätten.
Setzt eine Vergebung voraus, dass sich die beiden erst einmal schuldig bekennen?
Wie entzieht man sich so lange den deutschen Behörden? Heidbreder kann man nicht mehr fragen: Er ist vor ein paar Jahren an Krebs gestorben. Walter und Krauth leben heute in Venezuela, unter ihren richtigen Namen: 2021 hat die dortige Regierung ihnen Asyl gewährt, als politische Flüchtlinge.
Ihr Leben klingt wie aus einem Agententhriller: gefälschte Pässe, verschlüsselte Nachrichten, verwischte Spuren. In ihrer Geschichte geht es allerdings um mehr, es geht darum, wie ein paar Halbstarke aus der badischen Provinz zu international gesuchten Linksterroristen werden konnten. Es geht um Ermittlungseifer und letztlich um eine rechtsethische Frage: Wann endet Schuld?
„Das K.O.M.I.T.E.E“ hat keine Menschen auf dem Gewissen, es hat auch nie jemanden verletzt. Ein Anschlag wurde mit Glück vereitelt, es war also wohl Zufall, dass nichts Schlimmeres passierte. Beim anderen entstand ein Sachschaden von geschätzten 200 000 D-Mark. Die Taten liegen fast drei Jahrzehnte zurück, Interpol hat Walter und Krauth von der internationalen Fahndungsliste gestrichen. Allein das Bundeskriminalamt will sie immer noch verhaften.
Ist es also der deutsche Staat, der Peter Krauth und Thomas Walter nicht vergeben kann, verwehren hier übereifrige Ermittler zwei heute harmlosen Rentnern die ersehnte Heimkehr? Die beiden Flüchtigen selbst legen diese Interpretation nahe. Andere würden ihnen entgegnen, eine Vergebung setze voraus, dass die beiden sich erst einmal schuldig bekennen, dass sie offen zu ihren Taten stehen. Was sie bis heute nicht tun.
Früher Mittag in Mérida. Rechts neben dem Eingang von Krauths Häuschen steht „El Paraíso“, das Paradies. „Ist noch vom Vorbesitzer.“ Krauth hat neben das Schild ein Poster von einer Guerilla-Kämpferin aus El Salvador an die Wand genagelt, Sturmgewehr im Anschlag, auch ein Schwarz-Weiß-Foto von Che Guevara, grinsend, Zigarre im Mund, Barett auf dem Kopf.
Ob ihr Leben anders verlaufen wäre, hätte man ihnen mehr Freiheiten gelassen?
Krauth geht in Schlappen in die Küche, holt Tassen, stellt sie auf den Tisch. Walter schraubt solange die Espressomaschine auf, stellt den Herd an, dann fangen sie an zu erzählen.
Walter und Krauth stammen aus Sinzheim. Rechts der Schwarzwald, links die französische Grenze, und über allem thront die Yburg, eine mittelalterliche Burganlage. „Hab’ ich immer noch Bilder davon bei mir im Schlafzimmer hängen“, sagt Walter.
Seine Eltern waren Lehrer, der Vater für Sprachen, die Mutter für Mathematik. Beide haben sich nach oben gearbeitet, doch weil sie Französin war und er ein Deutscher, wurde die Familie in Sinzheim argwöhnisch beäugt. Hing die Wäsche zu lange auf der Leine, gab es Gerede von den Nachbarn. Krauth dagegen stammt aus einer Postbeamtenfamilie. Die Mutter erzog die Kinder, ein halbes Dutzend. Bewusst begegnet seien sich die beiden in Sinzheim nie.
Es waren aufgewühlte Zeiten, die Rote-Armee-Fraktion raubte Banken aus, legte Bomben, entführte und mordete. In der Bundeshauptstadt Bonn waren die Politiker alarmiert. Großfahndungen wurden angeordnet, Autobahnen abgesperrt und Telefone abgehört.
Auch in Sinzheim fühlte man sich verpflichtet, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Terroristen gab es hier zwar nicht, dafür aber langhaarige Jugendliche wie Walter, der gerne in ein Jugendzentrum in Baden-Baden ging, nur ein paar Kilometer entfernt. Oder wie Krauth, der mit Freunden gerne Bier trank, Musik hörte, Marihuana rauchte. Besser, man behält die im Auge, fand die Polizei, mit Ausweiskontrollen und Razzien. Beine breit, Hände an die Wand.
Ob ihr Leben anders verlaufen wäre, hätte man ihnen mehr Freiheiten gelassen? Schwer zu sagen. Sicher ist: Peter Krauth und Thomas Walter entwickelten damals eine Abneigung gegen Autoritäten, gegen den Staat und ganz besonders gegen die Polizei.
Krauth sagt heute: „Deutschland war damals in einem Wahn.“
Walter sagt: „Es waren erst die Bullen, die mich politisiert haben.“
Er sagt noch immer Bullen, nicht Polizisten – und bittet dann sofort, die Ausdrucksweise zu entschuldigen. Alte Gewohnheit.
Es wird die einzige Entschuldigung bei diesem Besuch bleiben. Die ihnen vorgeworfenen Taten werden sie nicht bereuen, sie werden sich nicht von ihnen distanzieren. Denn dazu müssten sie ja erst einmal alles gestehen.
Schräg gegenüber vom Esstisch hängt ein Passbild von Krauth, schwarz-weiß, er mit Strubbelhaaren, Halstuch und einer Jacke mit Leopardenmuster am Kragen. Wann das Foto aufgenommen wurde? „Ende der 80er“, sagt Krauth. Wo? „Keine Ahnung – aber ganz sicher in Berlin.“
Die Stadt ist damals ein Magnet, der junge Menschen aus dem ganzen Land anzieht: Subkultur, besetzte Häuser, Kunst, Konzerte, Partys, Wohngemeinschaften. Krauth will hin, raus aus Sinzheim. Walter möchte der Wehrpflicht entgehen, und wer in Berlin wohnt, muss nicht zur Bundeswehr. Kurz bevor er wegzieht, gibt eine Nachbarin ihm noch den Namen eines anderen jungen Sinzheimers. Der wohne schon länger in Berlin, sei sogar wie er gelernter Schreiner. Der Name: Peter Krauth.
Es dauerte nicht lange, dann waren Krauth und Walter Freunde. Tagsüber schraubten sie an Autos oder richteten Möbel vom Sperrmüll her, abends gingen sie feiern oder auf politische Diskussionsveranstaltungen. „Lustige Jahre“, sagt Walter.
In Mérida findet Krauth jetzt, dass es langsam Zeit fürs Mittagessen wäre. Er könne Spätzle machen, und zwar auf der Spätzlepresse, die er seit rund drei Jahrzehnten bei seiner Flucht mit sich herumtrage.
Er holt Eier, Mehl und Wasser, kippt alles in eine Schüssel, und während er den Teig rührt und rührt, weil die Spätzle sonst nicht luftig werden, erzählen er und Walter von den Berliner Zeiten.
Gemeinsam wohnten sie damals in einem Haus in Kreuzberg, wo bald auch Bernd Heidbreder einzog. „So ein Gruftie“, sagt Krauth. Schwarze Klamotten, düstere Musik. Sie hätten sich schnell verstanden – auch, weil sie ein gemeinsames Feindbild hatten: staatliche Autoritäten, ganz besonders die Polizei.
Heidbreder, ein Ostwestfale, wollte in Berlin Psychologie studieren, vor allem aber seiner Vergangenheit entfliehen. Zu Hause hatte er Ersatzdienst bei der Polizei geleistet, auf Wunsch seiner Familie. Einmal, habe er ihnen erzählt, hätten ihn Vorgesetzte gezwungen, einen Obdachlosen zu verprügeln: ein Loyalitätstest. „Der war schwer traumatisiert“, sagt Krauth.
In Berlin war das alles weit weg. Hier wurden Geschlechterrollen infrage gestellt, Kinder im Kollektiv erzogen. Und die drei Freunde wollten auch gleich noch Krieg und Kapitalismus bekämpfen.
Sie plünderten Supermärkte und stellten die erbeuteten Lebensmittel für die Nachbarn auf die Straße. Und sie veranstalteten Demos, auf denen oft auch Steine flogen in Richtung der Polizei. „Hat sich gut angefühlt, wenn die Bullen abhauen mussten“, sagt Walter. Endlich mal der Stärkere sein.
Die ersten Jahre seien ein großer Spaß gewesen. Doch nach dem Fall der Mauer waren es nicht mehr Polizisten, mit denen sie sich prügelten, sondern Neonazis. „Riesen Schränke“, sagt Krauth, stellt Töpfe und Wein auf den Tisch. Walter füllt Spätzle auf die Teller: „Guten Appetit!“
Hatten sie vorher höchstens mal in der Badewanne ihre Klamotten schwarz gefärbt, um nicht so leicht von der Polizei erkannt zu werden, übten sie nun Kampfsport, um überhaupt eine Chance zu haben gegen die Skinheads. So verflog die Leichtigkeit der ersten Jahre. Als Mitglieder der Szene untertauchen mussten, weil ihnen vorgeworfen wurde, einen Nazi getötet zu haben, sagt Walter, da habe er sich zum ersten Mal mit der Frage beschäftigt: Flucht – wie geht das eigentlich? Er las Artikel in linken Zeitschriften, überlegte sich, wie man Ausweise fälschen könnte, wie man sich über Helfer Geld beschafft.
Später, nach dem Mittagessen, will Krauth zu einem Restaurant fahren, das er mit Salat beliefert. Er wirft den Toyota an, lässt Walter auf der Beifahrerseite einsteigen, dann lenkt der den Wagen den steilen Weg Richtung Dorf hinunter. Wie viele Kilometer das Auto schon draufhabe? „Keine Ahnung“, sagt Krauth und kurbelt am Lenkrad. Der Zähler sei schon seit Langem kaputt, ebenso wie der Tacho. Egal: „Fährt noch eins a.“
Nach dem Fall der Mauer ziehen sich Bekannte aus der linken Szene zurück. Nicht aber die drei Freunde
Doch kaum ist er auf die Hauptstraße abgebogen, klemmt der Gang. „Scheiße“, sagt Krauth. Motor aus, Brille auf, Kühlerhaube hoch. Nach zwei Minuten die Diagnose: „Kupplungszylinder“, sagt Walter. „Kein Problem“, antwortet Krauth. Er ruft einen Mechaniker an, der verspricht, jemand mit dem Ersatzteil zu ihnen zu schicken. „Wollen wir nicht im Auto warten?“, sagt Walter, und ja: Es würde schon helfen, wenn man handwerklich begabt ist.
In Berlin hatten sie sich mit restaurierten Sperrmüll-Möbeln die Sozialhilfe aufgebessert. Nach der Wende kauften sie sich einen Hof in Brandenburg und bauten die Scheune zur Schreinerei um. Damals seien viele aus der linken Szene aufs Land gezogen. „Rückzug in die Bürgerlichkeit“, sagt Walter. Die drei Freunde gingen weiter auf Demos. Vielen anderen aber sei der Weg in die Stadt immer öfter zu weit gewesen. Wieso Randale in Berlin, wenn man auch ein ruhiges Wochenende in Brandenburg haben kann?
In Berlin war daher auf einmal bei Demos die Polizei in der Übermacht, und wollten sie gegen Rechtsradikale protestieren, bekamen sie nicht mehr genug Leute zusammen. Irgendwann sei klar gewesen, dass man mit weniger Mitstreitern andere Aktionsformen brauche. „Einfaches physikalisches Prinzip“, sagt Walter.
Ein Junge auf einem Moped hält jetzt neben dem Toyota an. Es ist der Sohn des Mechanikers. Im Rucksack: ein neuer Kupplungszylinder. Nach zehn Minuten hat Walter ihn eingebaut.
Als am 11. April 1995 kurz nach Mitternacht Beamte eines Funkstreifenwagens auf einen roten Ford Transit mit warmer Motorhaube stießen, fanden sie im Laderaum vier Propangasflaschen, verbunden mit Drähten, angeschlossen an batteriebetriebene Digitalwecker, eingestellt auf 3.30 Uhr und 3.31 Uhr. Eine Polizeitechnische Untersuchung, kurz PTU, sollte später feststellen, dass die Gasflaschen gefüllt waren mit einem Gemisch aus Zucker und Chemikalien, insgesamt 120,7 Kilogramm schwer. Festzuhalten sei, so steht es im Ermittlungsbericht, dass dieses „Selbstlaborat“, als es wenige Tage später zur Detonation gebracht wurde, die Erwartungen der Sachverständigen in Bezug auf die Sprengkraft „bei Weitem“ übertroffen habe.
„Hätte bestimmt ’nen ordentlich Rumms gegeben“, sagt Walter und schaut aus dem Fenster des Autos, das jetzt wieder durch die engen Kurven der venezolanischen Anden fährt. Wüsste man nicht, dass er und Krauth bis heute keine Beteiligung an dem Anschlag zugegeben haben: Man könnte fast meinen, dass Walter ein wenig stolz ist.
In jener Nacht des 11. April jedenfalls explodierte die Bombe nicht. Reiner Zufall. Dafür begann Walters, Krauths und Heidbreders Flucht.
Es ist spät geworden in Mérida, als sie wieder auf Krauths Hof ankommen. Walter knipst das Licht in der Küche an und stellt eine Flasche Rum auf den Tisch. Wo sie in den ersten Monaten ihrer Flucht waren? Walter und Krauth überlegen: Was können sie verraten, ohne Unterstützer in Schwierigkeiten zu bringen? Am Ende sagen sie: „Im europäischen Ausland.“
Die meiste Zeit waren die drei getrennt voneinander unterwegs und versteckten sich. Wo und bei wem? „Kein Kommentar.“ Manchmal seien sie wochenlang nicht vor die Tür gegangen, aus Angst, entdeckt zu werden.
Ihre Ausweispapiere waren schlecht gefälscht, manche Angaben einfach durchgestrichen. „Balla-balla“, sagt Krauth. Reiner Dusel, dass sie nicht aufgeflogen sind.
Schritt für Schritt aber professionalisierte sich ihre Flucht. Damals, Mitte der 90er, setzten sich Internet und E-Mails langsam durch. „Hatten wir sofort auf dem Schirm“, sagt Walter. Bald hätten sie ein System entwickelt für verschlüsselte Nachrichten. „Unknackbar“, sagt Walter.
Manchmal trafen sie sich, gingen auf Partys und einmal, nach fast einem Jahr auf der Flucht, sogar zusammen zum Tätowierer. „Musste ich eh hin“, sagt Krauth, er wollte ein Cannabis-Blatt überdecken lassen. „Sicherheitsproblem“, sagt er, denn in seinen Akten war die Tätowierung vermerkt, das wusste er aus früheren Begegnungen mit der Polizei in Berlin.
Während sie darauf warteten, dass Krauth an der Reihe ist, kam ihnen eine Idee: wieso nicht die gleiche Tätowierung für alle drei? „Schau“, sagt Krauth und zieht den Kragen seines T-Shirts nach unten. Graue Brusthaare, darunter die Umrisse eines Fischgerippes: eine Erinnerung daran, dass sie nie wie tote Fische mit dem Strom hatten schwimmen wollen.
Fluchtromantik? „Bestimmt“, sagt Walter. Und dass am Anfang alles noch aufregend gewesen sei.
Krauth trinkt schweigend seinen Rum aus. Er war der Einzige, der zum Zeitpunkt der Flucht eine Beziehung hatte. Sie zerbrach, als er seine Freundin überreden wollte, mit ihm zu kommen.
Dazu kam noch ein Problem: Der VW-Passat, den die Polizei direkt neben dem Bomben-Auto gefunden hatte, war zugelassen auf Krauths Schwester. Sie galt anfangs als Komplizin, kam in Untersuchungshaft. Obwohl sie schwanger war, waren die Haftbedingungen hart: Bis auf kurze Hofgänge, die sie allein absolvieren musste, durfte sie ihre Zelle nicht verlassen.
Natürlich habe er das alles mitbekommen, sagt Krauth, immer wieder konnte er über Kontakte Verbindung mit Bekannten aufnehmen, die ihm dann von seiner Schwester erzählten. „Ich wollte mir die Kugel geben.“ Seine Schwester und er hätten sich immer gut verstanden, und nun saß sie im Gefängnis, wegen ihm. Ob er überlegt habe, sich zu stellen? „Klar.“
Dann aber seien ihm Zweifel gekommen: Würden die Behörden seine Schwester wirklich freilassen – oder könnten sie versuchen, sie als Druckmittel zu benutzen, um ihn zu einem Geständnis zu zwingen und Mittäter preiszugeben? Dann, sagt er, hätte er sich doppelt die Kugel geben können: „Seine Freunde verrät man nicht.“
Auch bei den Ermittlern kippte bald die Stimmung
Am Ende kam die Schwester zwar wieder frei, ihr Kind aber auch viel zu früh auf die Welt, 26. Woche. Es überlebte. Der Kontakt zur Schwester brach ab. Dass Krauths Haare heute grau sind, sagt er, liege an dieser Zeit.
Auch bei den Ermittlern kippte bald die Stimmung. „Osterei“ haben sie eine extra eingerichtete Sonderkommission genannt, vermutlich, weil der Anschlag auf das Abschiebegefängnis wenige Tage vor Ostern aufflog. Trotzdem: Der Name klingt auch nach einem Witz, fast so, als hätten sie damals „Das K.O.M.I.T.E.E.“ zunächst nicht richtig ernst genommen. Dilettanten, die Fingerabdrücke am Tatort hinterlassen, sogar Ausweispapiere: Sollte ein Kinderspiel sein, sie zu schnappen! Doch egal, wie sehr die Ermittler sich in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren anstrengten: Von Krauth, Walter und Heidbreder fehlte jede Spur.
Irgendwo, sagt Krauth in Mérida, habe er noch die Ermittlungsunterlagen herumliegen, eingescannt und auf DVD gebrannt. Auf die Hülle steht mit dickem Filzstift „Akte“ geschrieben. Wer sie ihnen gegeben hat? Kein Kommentar.
Klickt man sich durch die Dateien, sieht man Berichte von Beweisaufnahmen und Zeugenvernehmungen, Fotos von den Tatorten und den Wohnungen der Beschuldigten, Gutachten, Analysen, Anträgen. Fast hundert Ordner. Vor ein paar Jahren, sagt Walter, habe er sich das alles einmal durchgelesen: „Hat ’ne ganze Woche gedauert.“ Der Aufwand der Ermittler ist groß.
Im September 1995 verschickte „Das K.O.M.I.T.E.E.“ zum Beispiel ein Schreiben unter dem Titel „Knapp daneben ist auch vorbei“. Die Gruppe bekannte sich darin zu dem gescheiterten Anschlag auf das Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau und gab ihre Auflösung bekannt. Als linke Zeitungen wie die taz oder die Junge Welt den Brief veröffentlichten, wurden umgehend ihre Redaktionsräume durchsucht – was wiederum Empörung auslöste.
Selbst in Ägypten gingen die Ermittler vermeintlichen Hinweisen nach – ohne Erfolg
Ein andermal hörten die Ermittler Gespräche von Anwälten ab und zeichneten diese rechtswidrig auf, die Beschwerden gegen DNA-Entnahmen füllen einen ganzen Ordner. Mitte der Nullerjahre überwachte das Bundeskriminalamt Linksradikale, die nach Kolumbien reisten, ein anderes Mal wurden Beamte sogar nach Ägypten geschickt, um dort vermeintlichen Hinweisen nachzugehen. Ohne Erfolg.
Als Ermittler feststellten, dass ein Besucher am 12. Februar 2006 im Historischen Museum in Berlin von einem öffentlich zugänglichen Rechner die Internetseite mit dem Fahndungsaufruf für die drei Deutschen angesteuert hatte und dort rund sieben Minuten verweilt war, waren sie überzeugt, so steht es in den Akten, einem „bislang unbekannten Tatbeteiligten“ auf die Schliche gekommen zu sein. Die Ermittler zapften den Computer im Museum an, sie installierten eine Videokamera, Beamte legten sich in den Räumlichkeiten auf die Lauer. Nach mehreren Wochen endete das Ganze. Wieder erfolglos.
Tatsächlich waren die drei Deutschen damals längst in Lateinamerika. Wann und wie sie es aus Europa herausgeschafft haben? „Können wir nicht verraten“, sagt Walter. Nur so viel: Die Flucht fand Ende der 90er-Jahre statt – und ohne Unterstützer, die Geld, Unterschlupf und Kontakte angeboten haben, wäre sie nicht möglich gewesen.
Wann sagt man einer potenziellen Freundin, dass man auf der Flucht ist?
Auch in Lateinamerika waren die drei oft getrennt voneinander unterwegs. Sie lernten neue Freunde kennen, manchmal auch Frauen, die sie interessant fanden, sympathisch, anziehend. Aber mit der Liebe auf der Flucht sei es so eine Sache, sagt Walter: „Ohne Ehrlichkeit geht das nicht.“ Nur: Wer ist das Risiko wert – und wann sagt man einer potenziellen Partnerin, dass man auf der Flucht ist vor dem deutschen Staat?
Immer wieder kam es vor, dass sie sich an einem Ort nicht mehr sicher fühlten, zum Beispiel, weil sie merkten, dass irgendjemand in ihrem Umfeld anfing, Fragen zu stellen. Dann verbrannten sie Fotos, Dokumente, Briefe. „Alles, was gefährlich werden kann“, sagt Krauth. Und dann ging es weiter, dorthin, wo einen niemand kennt.
Manchmal trafen sie sich wieder, zu zweit oder zu dritt, in Bolivien oder El Salvador. Sie arbeiteten als Automechaniker, Krankenwagenfahrer, Drucker. Fast normale Leben, nur eben unter falschen Namen. Thomas Walter ist „Niko“, Peter Krauth heißt „Cuti“ und Bernd Heidbreder „John“. Manchmal vergaßen sie fast, dass sie auf der Flucht waren. Gleichzeitig war da immer die Gefahr, dass die Vergangenheit sie doch noch einholt. Ein Leben in Angst.
Der nächste Morgen in Mérida. Krauth kommt in die Küche, reibt sich den Kopf. Bisschen viel Rum gestern, sagt er. Walter kocht schon wieder Kaffee.
Draußen, vor dem Küchenfenster, fliegen Schmetterlinge zwischen den Blumen in Krauths Garten hin und her. Und hinten, über den Gipfeln der Anden, die hier langsam in die Karibik ausfransen, ziehen dunkle Wolken auf.
Dass sie Anfang der Nullerjahre ausgerechnet in Mérida gelandet waren, war Zufall.
Venezuela wurde damals von Hugo Chávez regiert, einem Linkspopulisten, der von einem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ träumte. Er wollte das Geld, das damals durch den Erdölverkauf in die Staatskassen sprudelte, in Alphabetisierungskampagnen, den Wohnungsbau, Stipendien und ein kostenloses Gesundheitssystem stecken. „Fand ich gut“, sagt Krauth.
2003 kam er erstmals ins Land, gemeinsam mit seiner mittlerweile verstorbenen Lebensgefährtin, einer deutschen Ärztin, die er in El Salvador kennengelernt hatte, wo sie bei der linken Guerilla aktiv war. „Die war mindestens so verrückt wie ich.“
Sie reisten herum, fuhren in Venezuela an die Küste und in die Berge. In Mérida gefiel ihnen das milde Klima und die Natur. Sie beschlossen zu bleiben, kauften ein kleines Haus: „El Paraíso“. Wenig später kam Thomas Walter dazu, kurz darauf Bernd Heidbreder.
Natürlich, dass sie nach fast zehn Jahren auf der Flucht nun alle in Mérida lebten, war ein Risiko. „Das war es aber wert“, sagt Walter. All die neuen Bekanntschaften, die Freunde, ja sogar die Partnerinnen hätten immer Mühe gehabt, zu verstehen, wieso man in bestimmten Situationen ausflippt, sich seltsam verhält. Mit Krauth und Heidbreder sei das anders gewesen: „Die hatten ja die gleichen Sorgen.“
Einfach aufzugeben? Das widerstrebte den drei Männern
Manchmal dachten sie ans Aufgeben. Was würde passieren, wenn sie zurückkehrten – und wäre nicht vielleicht sogar ein Deal mit der deutschen Justiz denkbar?
Einmal ergab sich hierfür sogar eine konkrete Möglichkeit: Walter, Krauth und Heidbreder hatten über all die Jahre auf ihrer Flucht nicht nur Kontakt mit Unterstützern, sondern auch mit Anwälten in Deutschland. Diese begannen 2001, mit der Bundesanwaltschaft zu verhandeln. Die Idee: Krauth, Walter und Heidbreder stellen sich. Dafür gibt es im Falle einer Verurteilung mildere Strafen.
Als das Angebot bei ihnen ankam, lebten sie bereits in Venezuela. Bei Kaffee und Erdbeerkuchen hätten sie den Vorschlag diskutiert. Wie lange sie ins Gefängnis gemusst hätten, sei aber unklar gewesen. Und es widerstrebte ihnen, einfach aufzugeben. Dass sie so lange den Fahndern in Deutschland entwischt waren: „Da sind wir schon auch stolz drauf“, sagt Walter.
Die Zeit, dachten sie damals, spiele ja für sie. Denn die Verjährungsfrist für den damals noch wesentlichen Straftatbestand, die Verabredung zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion, liegt bei 20 Jahren. „Spätestens 2015 hätte alles vorbei sein müssen“, sagt Walter.
Kurz davor aber, im Juli 2014, wurde Bernd Heidbreder in seiner neuen Heimat Mérida von der venezolanischen Polizei festgenommen – geschickt hatten sie die deutschen Ermittler. Wie die Behörden auf seine Spur gekommen waren? „Keine Ahnung“, sagt Walter.
Für die Ermittler war es ein Erfolg: Endlich hatten sie einen der mutmaßlichen Täter von „Das K.O.M.I.T.E.E.“ geschnappt. Doch schnell gab es neue Probleme. Denn nach venezolanischem Recht waren die Taten, die Heidbreder in Deutschland vorgeworfen wurden, längst verjährt. Die Richter in Caracas lehnten daher den Auslieferungsantrag aus Berlin ab. Heidbreder musste nicht zurück nach Deutschland, wo ihm weiterhin die Verhaftung drohte, obwohl die ihm vorgeworfenen Taten eigentlich schon verjährt gewesen sein müssten.
Vergeben können Opfer oder Angehörige – nicht aber der Staat
Wie kann das sein? Ein Anruf bei Martin Asholt, Professor für Strafrecht an der Universität Bielefeld – und spezialisiert auf Verjährung. Zunächst einmal, sagt er, dürfe man diese bitte nicht mit Vergebung gleichsetzen: „Das sind zwei komplett unterschiedliche Dinge.“ Vergebung sei eine persönliche Entscheidung, die Opfer treffen können oder Angehörige – nicht aber der Staat. Dass eine Tat verjähre, liege daran, dass Beweise nach vielen Jahren nicht mehr erbracht werden können oder eine Verfolgung nicht mehr im Sinne der Gesellschaft ist, da zu aufwendig oder nicht mehr relevant.
Wie lange die Fristen sind, hänge dabei immer auch vom gesellschaftlichen und historischen Kontext ab. Vor 150 Jahren sei es bei der Schaffung des „Reichsstrafgesetzbuches“ darum gegangen, die Bürger im damaligen Kaiserreich vor allzu eifrigen Justizbeamten zu schützen. „Nach 20 Jahren war damals zum Beispiel ein Mord verjährt“, sagt Asholt.
Das änderte sich nach dem Dritten Reich: Naziverbrecher sollten auch lange nach dem Ende des Krieges für ihre Taten belangt werden können. Die Verjährung von Mord wurde 1965 erst verlängert, 1979 sogar ganz abgeschafft.
Auch bei anderen Straftaten werden Verjährungszeiträume verändert. „Das Verjährungsrecht ist nichts Fixes“, sagt Asholt. Und ohnehin: Jeder Haftbefehl könne potenziell dazu führen, dass die Verjährung wieder von vorne beginnt, maximal bis zur Verdopplung der ursprünglichen Frist.
Was bedeutet das für Peter Krauth und Thomas Walter? Einmal kurz nachgerechnet: Die Verabredung zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion, die man ihnen heute noch vorwirft, wäre eigentlich im April 2015 verjährt, 20 Jahre nach dem gescheiterten Anschlag auf das Abschiebegefängnis im April 1995. Weil aber immer wieder neue Haftbefehle ausgestellt wurden, zuletzt gegen Heidbreder 2014, verlängerte sich der Verjährungszeitraum maximal, 40 Jahre statt 20 Jahre. Erst 2035 würde das Verfahren gegen sie eingestellt. Walter und Krauth wären dann über 70.
Immerhin: In Venezuela dürfen die Deutschen bleiben
In Walters Augen ist das „Schwachsinn“. Die Bundesanwaltschaft bediene sich eines Tricks, um sie weiter verfolgen zu können: Statt ihnen die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorzuwerfen oder den geplanten Anschlag, ginge es nun nur noch um die Verabredung zu einer Straftat nach Paragraf 30 StGB – und diese verjähre, je nach Lesart, eben erst nach 40 Jahren. Krauth spricht von „rechtslastigen Ermittlern“ – er unterstellt ihnen damit nicht Gesetzestreue, sondern eine politische Haltung.
Beim Bundeskriminalamt will man sich zu dem Fall nicht äußern und verweist auf die Bundesanwaltschaft. Aber auch hier: kein Kommentar wegen laufender Ermittlungen.
Allerdings hat sich im Juni 2016 der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs eigens mit dem Fall befasst. Er kam zu dem Schluss, dass die Vorwürfe gegen Krauth, Walter und Heidbreder rechtens seien. „Das K.O.M.I.T.E.E“ sei darauf ausgerichtet gewesen, „die politischen Verhältnisse in Deutschland im Sinne der linksgerichteten Ideologie dieser Gruppierung umzuwälzen“. Die weitere juristische Verfolgung der drei Deutschen sei darum verhältnismäßig: Die Verjährungsfrist sei durch Haftbefehle unterbrochen worden. „Da auch das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist seit dem 11. April 1995 noch nicht abgelaufen ist (…) – dies wäre erst im April des Jahres 2035 der Fall – besteht ein Verfahrenshindernis nicht“, schreiben die Richter.
Immerhin: In Venezuela dürfen die Deutschen bleiben. 2017, kurz nachdem klar war, dass Bernd Heidbreder nicht ausgeliefert wird, beantragten er, Walter und Krauth in Caracas Asyl.
„War ein großer Schritt“, sagt Walter. Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahrzehnten traten sie damals mit ihrem echten Namen wieder in die Öffentlichkeit. Schon der Asylantrag schütze sie vor den deutschen Behörden, glaubten sie. Doch dann stand Krauth 2019 am Flughafen, um Besuch aus Deutschland abzuholen. Und geriet in eine Polizeikontrolle.
Die Beamten fanden den internationalen Fahndungsaufruf, der ja weiterhin bestand. Krauth kam in Haft, vier Monate lang, seine Zelle sei so klein und überfüllt gewesen, dass er und die anderen Gefangenen sich mit dem Schlafen abwechseln mussten. Teilweise sei er mit Handschellen an eine Bank gefesselt gewesen. Tagelang. Erst mit Verweis auf sein Asylverfahren durfte er das Gefängnis verlassen.
2021 starb Bernd Heidbreder an Krebs. Kurz vor seinem Tod wurde sein Ayslantrag anerkannt, ebenso wie der von Krauth und Walter. Die venezolanischen Behörden glaubten, das Verfahren gegen sie in Deutschland sei politisch motiviert. Die drei dürfen bleiben, als Flüchtlinge. Im selben Jahr löschte auch Interpol den internationalen Fahndungsaufruf. Zum ersten Mal seit rund einem Vierteljahrhundert war die Welt ein sicherer Ort für die Flüchtlinge. Bis auf Deutschland – denn dort besteht der Haftbefehl weiter, bis heute.
Ob sie Deutschland vermissen? „Manchmal“, sagt Krauth. Skifahren. Zwiebelkuchen. Und selbst hier, in Venezuela, schaut er noch die Bundesliga, vor allem den BVB.
Walters Vater ist vor ein paar Jahren gestorben, seine Mutter aber lebt noch. Über all die Jahre ihrer Flucht hätten sie keinen Kontakt gehabt. „Zu gefährlich“, sagt er. Nach dem Beginn des Asylverfahrens in Venezuela hätten sie aber angefangen zu telefonieren. Später habe seine Mutter ihn sogar besucht. Nun sei sie zu alt für Reisen, Walter würde sie gerne pflegen, „als späte Wiedergutmachung“. Seine Familie habe allerdings immer hinter ihm gestanden.
Im Falle von Bernd Heidbreder ist das anders: Dessen Eltern hätten ihrem Sohn nie verziehen, sagt Krauth. Er selbst wiederum hat nur mit einem Teil seiner Geschwister Kontakt. Andere reagieren bis heute nicht auf Anrufe oder Briefe, darunter die Schwester, die zunächst fälschlicherweise als Komplizin verdächtigt wurde. „Vielleicht wäre das anders, wenn ich sie besuchen könnte.“ Er vor dem Haus, die Klingel läutet, die Tür geht auf: Wer weiß, was dann passieren würde?
Doch selbst in Venezuela, fast 9000 Kilometer von Berlin entfernt, macht der deutsche Haftbefehl den beiden Probleme. Zum Beispiel hätten Walter und Krauth als politische Flüchtlinge eigentlich Anspruch auf einen venezolanischen Personalausweis. Dafür verlangen die dortigen Behörden jedoch einen Identitätsnachweis. „Haben wir aber nicht“, sagt Krauth. Ihre deutschen Pässe haben sie vor fast 30 Jahren bei der Flucht zurückgelassen.
Nach all den Jahren sehen sie in ihrer Flucht auch so etwas wie ihr Lebenswerk
Eigentlich müsste Deutschland ihnen neue Dokumente ausstellen, Staatsbürger sind sie ja immer noch, Fahndung hin oder her. Sie seien deswegen sogar bei der Botschaft gewesen, sagt Walter. Alles, was sie dort bekamen, war aber ein Papier, gültig für einen Monat, das ihnen erlaubte, einen neuen Ausweis abzuholen – und zwar in Deutschland. „Wir sind ja nicht blöd“, sagt Krauth und tippt sich an den Kopf.
Ohne deutschen Pass aber gibt es eben auch keinen venezolanischen Personalausweis – und damit kein Bankkonto auf ihren Namen, keine Handynummer, keine Krankenversicherung. „Nix“, sagt Krauth. Stets brauchen sie andere, die für sie Verträge abschließen, die ihnen ihren Netflix-Zugang geben oder eine Kreditkarte leihen. Anstrengend sei das, sagt Walter. Er sieht das Verhalten der deutschen Behörden als Schikane: Wenn man sie schon nicht in Deutschland in einen Knast sperren könne, dann sollten die beiden es wohl wenigstens in Venezuela so ungemütlich haben wie möglich.
Müssen zwei Männer heute immer noch dafür bestraft werden, dass sie vor knapp drei Jahrzehnten einen Anschlag verübt und einen weiteren geplant haben sollen? Gibt es aus Sicht des Staates keine Möglichkeit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen und Walter, Krauth und ihren Familien die Chance auf Versöhnung zu geben?
Eine gäbe es. Doch dass die beiden gesuchten Männer von dieser nicht profitieren, liegt nicht am deutschen Staat. Sondern an Krauth und Walter und daran, dass sie sich nicht stellen und erst recht nichts gestehen wollen.
Der eine Weg zurück nach Deutschland für die beiden wäre dann zu finden im Grundgesetz, Artikel 60 Absatz 2. „Der Bundespräsident (…) übt im Einzelfalle für den Bund das Begnadigungsrecht aus.“ Doch bevor Thomas Walter und Peter Krauth den Bundespräsidenten um Gnade bitten könnten, müssten sie erst mal verurteilt werden. Und um verurteilt werden zu können, müssten sie sich zunächst überhaupt einmal den deutschen Behörden stellen und sich schuldig bekennen für all die Taten, die dem „K.O.M.I.T.E.E.“ vorgeworfen werden. Das aber wollen Walter und Krauth nicht. Nach all den Jahren sehen sie in ihrer Flucht auch so etwas ihr Lebenswerk.
Die beiden Männer sagen nun also, dass sie in Venezuela bleiben wollen. Eine andere Möglichkeit bleibt ihnen kaum. Auch wenn in dem Land von Aufbruchstimmung nur noch wenig zu spüren ist: Seit Jahren gibt es eine schwere Wirtschaftskrise, die Behörden sind korrupt. Im Juli ließ sich Machthaber Nicolás Maduro bei Wahlen zum Sieger erklären, ohne Beweise dafür vorzulegen. Proteste wurden niedergeschlagen, es gab Dutzende Tote und Tausende Festnahmen.
Und trotzdem sagt Walter: „Das hier ist unser Leben.“
Krauth hat seine Salatpflanzen und seine Erdbeeren. Walter möchte bald schon seinen eigenen Kaffee ernten. Den Namen weiß er schon: „E.X.I.L“. Eine Anspielung auf „Das K.O.M.I.T.E.E.“? „Natürlich“, sagt er, und dass die ersten Büsche bereits Früchte tragen. „Das wird mal meine Rente“, sagt Walter.
Happy End im Kleinen also? Nicht ganz. Seit ein paar Jahren steht in der Nähe von Walters Haus eine Avocado-Pflanze. Den „Bernd-Baum“, nennt Walter ihn, unter seinen Wurzeln liegen die Überreste von Bernd Heidbreder. Nachdem er gestorben war, wollte seine Familie nicht einmal seine Asche haben.
Redaktion: Kai Strittmatter, Benedikt Warmbrunn; Digitales Storytelling: Benedikt Warmbrunn; Digitales Design: Lisa Hingerl; Bildredaktion: Natalie Neomi Isser; Infografik: Julia Kraus; Schlussredaktion: Cosima Kopfinger
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